Mittwoch, 9. November 2011

Das Haselblatt

Es war einmal ein Haselblatt. Das war schon gelb und hing mit seinem
letzten Faden ganz unten im Geäst des Haselnussstrauches. Der November-
sturm hatte im Blattwerk des Strauches schon arg gewütet und die meisten
welken Blätter mit sich gerissen. Viel Widerstand hatten sie ihm nicht
mehr leisten können, denn die kurzen Tage und die kalten Nächte hatten
schon zu stark an ihnen gezehrt.

Das Blatt sah sich verängstigt um. Vielleicht gab es ja noch das
Nachbarblatt einen Ast unter ihm, mit dem es sich die letzten Tage so
gut verstanden hatte. Gegenseitig hatten sie sich getröstet, wenn wieder
mal ein Blatt aus ihrer Mitte gerissen wurde. Meist war es der böige
Wind, der sie fort riss und an entfernter Stelle liegen ließ. Oft war es
auch ein Vogel, der das kahle Geäst des Strauches erschütterte, wenn er
einen Rastplatz suchte. Das Eichhörnchen kam schon lange nicht mehr,
denn die restlichen Haselnüsse waren alle schon zu Boden gefallen.

Ein Seufzer entfuhr dem schmalen Mund des Haselblattes, als es den Platz
unter sich leer fand. "Jetzt bin ich dran! Doch so leicht werde ich
nicht aufgeben", sprach sich das Blatt Mut zu und sammelte seine letzte
Kraft. Der kleine Ast, auf dem es saß, schien diesen Willen zu spüren
und verdoppelte seine Anstrengungen, dem letzten Blatt den
entsprechenden Halt zu geben. Trotzig blickten beide in Richtung der
dunklen Wolke, die drohend auf sie zu kam, um sich über ihnen zu entladen.

Der folgende eisige Wind konnte ihnen tatsächlich nicht viel anhaben.
Mit vereinten Kräften stemmten sich Blatt und Ast dem wilden Gesellen
entgegen und jubelten, wenn sie wieder einmal einen Ansturm überlebt
hatten. Doch dann legte sich der Wind und die Wolke öffnete ihre
Schleusen. "Wenn es nur wieder Regentropfen sind, die mir da drohen,
dann werde ich auch diesen Angriff überstehen", frohlockte das
Haselblatt schon.

Der Niederschlag kam auch, aber diesmal nicht als gewöhnlicher Regen,
sondern als Schnee, der leise vom Himmel rieselte und ganz sachte alles
mit einer weißen Decke zu überziehen begann. Das Blatt konnte sich
drehen und wenden, wie es wollte, doch die Flocken erfassten es auch und
gaben ihm einen Überzug. "Toll solch ein wärmendes Mäntelchen!",
schwärmte das Blatt schließlich und vergaß all seine Sorgen.

Der kleine Ast unter dem Blatt aber hatte das Unheil schon kommen sehen.
Es war wie im November des letzten Jahres. Was der Wind und die Kälte
nicht geschafft hatten, besorgte der erste Schnee. Er wähnte das letzte
Blattwerk in Sicherheit und riss es mit seinem Gewicht zu Boden, wo das
Leben dann zu Ende ging. So geschah es auch mit diesem Blatt. Es machte
leise Knacks! und das letzte Blatt taumelte mitsamt der weißen Fracht zu
Boden.

Die Landung war zwar weich, aber nicht so sanft, dass das Haselblatt
weiter geschlummert hätte bis an sein sicheres Ende. Es schlug die
matten Äuglein auf und die begannen auch gleich zu strahlen, als es
direkt neben sich das Nachbarblatt wieder erkannte, das solange neben
ihm ausgehalten hatte. Die beiden Blätter drängten sich sogleich noch
näher zusammen und bildeten einen kleinen Hohlraum unter sich, der sie
nun auch gegen die seitliche Kälte schützte.

Die beiden Blattfreunde waren nun sicher, dass ihnen so noch ein
weiteres Stückchen Leben geschenkt worden war. Der Laubsauger des
Hausmeisters war schon längst verstummt und mit dem Rechen würde er auch
nicht mehr ausrücken um diese Jahreszeit! Bald gewöhnten sich die Augen
der beiden an die Dunkelheit und sie konnten sehen, welches Getier an
ihnen vorbei huschte oder kroch.

Da war die Maus, die zittrig umher schnüffelte auf der Suche nach etwas
Fressbarem. Meist kehrte sie auch heim mit einem vollen Mäulchen, doch
das war sicherlich nicht genug für den Tagesbedarf einer ganzen
Mäusefamilie.

Unzählige Käfer krabbelten vorbei, ebenfalls emsig auf Nahrungssuche
unter dem schützenden Laub. Ob sie alle wieder heim kamen oder Opfer
anderer hungriger Mäuler wurden, konnten die beiden Haselblätter nicht
ausmachen, denn unter ihrer dunklen Kuppe war nicht alles klar zu
erkennen. Jedenfalls ging hier unten auf dem Boden das Leben weiter,
während weiter oben die geschlossene Schneedecke alles Leben zu
ersticken schien.

Immer öfter kam es vor, dass den beiden Haselblättern die Augen schwer
wurden und sie viel Zeit in einem Dämmerschlaf verbrachten. So sparten
sie auch noch ein wenig Energie, die sich immer mehr ihrem Ende
zuneigte. Ab und zu, wenn sie gerade beide mal wieder gleichzeitig aus
den Blattaugen blinzelten, betasteten sie mit ihren blättrigen Händchen
vorsichtig ihre Blattoberfläche, um ihre Festigkeit zu überprüfen. Dünn
war sie geworden, sehr dünn und an den Rändern zeigten sich immer mehr
Trockenrisse. Sie sprachen sich gegenseitig Mut zu und verabredeten,
noch mindestens bis zum Ende des Winters durchzuhalten, um die ersten
warmen Sonnenstrahlen noch einmal zu erleben.

Zur Weihnachtszeit wurde es dann noch einmal kritisch. Tauwetter hatte
wieder eingesetzt und ließ den Schnee zurück weichen, bis schließlich
nur noch kleine Reste in Bodennischen kauerten. Auch unter dem
Haselnussstrauch kam der Boden wieder zum Vorschein und die Blätter standen
entblößt da. Alle bunten Farbtöne des Herbstlaubs waren gewichen, sodass
die Menschen achtlos an ihnen vorbei eilten. Hin und wieder konnten man
auch ein leise Fluchen hören, weil ein nasses Blatt einen eiligen Schuh
ins Rutschen gebracht und den Träger in Not versetzt hatte.

"Wenn es doch wieder schneien würde!", flehten die Haselblätter leise
und blickten mit matten Augen zum Winterhimmel empor. Dieser schien ihr
Flehen wohl vernommen zu haben, denn schon im Januar kam der Schnee
zurück und mit ihm strenger Frost. Gott sei Dank war diesmal die
Schneedecke etwas dicker als zuvor, sodass der neue Mantel noch besser
gegen die grimmige Kälte schützte.

Immer mehr fühlten die beiden Haselblätter ihre letzten Kräfte
schwinden. Hätten sie sich nicht gegenseitig das Versprechen gegeben,
die Frühlingssonne noch abzuwarten, wären sie schon längst vollends in
sich zusammen gesunken und im Erdreich verschwunden. So aber hatten sie
noch ein Ziel und die leise Hoffnung, dass es die Natur gut mit ihnen
meinte.

Und die Natur enttäuschte sie nicht. Kaum hatte die Sonne Ende Februar
die ersten warmen Strahlen zur Erde geschickt, da regte sich schon unter
dem Laub das neue Leben. Ein leises Lächeln huschte über das fahle
Gesicht der beiden Haselblätter, als sie spürten, wie auch unter ihren
Füßen der Boden sich leicht hob und die ersten Schneeglöckchen ihre
weißen Köpfe aus dem Boden streckten. "Da schau!", raunte das Haselblatt
seinem Nachbarblatt zu. Doch das blieb diesmal stumm. Es war nicht mehr
und sah jetzt der Erde ähnlicher als einem Haselblatt. "So warte doch!",
rief das Haselblatt. Dann schloss es auch die Augen für immer und machte
sich auf den Weg, den alle Blätter gehen, wenn ihre Zeit vorbei ist.

Freitag, 4. November 2011

Nautnutz der Faulpelz

Wie ihr sicherlich wisst, gibt es Fleißige und auch Faule in dieser
Welt. Ameisen zum Beispiel, die sind fleißig wie sonst kein anderes
Tier. Sie sind ständig in Bewegung, suchen, sammeln und schleppen alles
Mögliche. Bienen sind auch sehr fleißig, besonders am Tag, wenn sie
emsig umherschwirren auf der Suche nach Blüten, um aus ihren Pollen
köstlichen Honig zu machen.

Faulpelze gibt es auch genug. Ich denke da nur an das Faultier, dass die
ganze Zeit nur faul in Baumwipfeln hängt und sich nur dann träge auf den
Weg macht, wenn es Nahrung sucht. Allerdings nur Nahrung in der
unmittelbaren Umgebung, denn es scheut weite Wege, wie ihr euch denken
könnt. Ein Krokodil wirkt auch faul, wenn es auf einer Sandbank liegt
und in die Sonne blinzelt. Doch Vorsicht! Wenn es Beute wittert, kommt
ganz schnell Leben in die Panzerhaut.

Auch unter den Menschen gibt es welche, die sind fleißig wie die Bienen
oder so faul wie voll gefressene Löwen. Solche Faulpelze gibt es nicht
nur unter den Erwachsenen, sondern auch schon unter den Kindern. Nehmt
die Schule als Beispiel! Die meisten Kinder sind brav und machen immer
ihre Hausaufgaben. Allerdings gibt es auch welche, die sind stinkend
faul und lügen noch dazu.

Einer von solchen Faulpelzen war auch Nautnutz, von dem diese
Kurzgeschichte handelt. Sicherlich hieß er in Wirklichkeit anders, aber
seine Mutter nannte ihn nur 'Nautnutz', weil er so faul war wie sonst
keiner und obendrein zu nichts nütze. Nautnutz war es auch egal, wie ihn
seine Mutter rief. Er wollte lieber seine Ruhe und von niemandem gestört
werden, auch nicht in der Schule. Wenn er sich denn einmal bewegte, dann
nur, um sich nach etwas Essbarem umzuschauen oder nach einer noch
ruhigeren Ecke.

Natürlich war auch das Äußere von Faulpelz entsprechend abstoßend. Er
war kugelrund und ungepflegt, weil er sich kaum bewegte und alles
Essbare in sich hineinstopfte. Waschen war ihm lästig und Anziehen
natürlich auch. Am liebsten hätte er den ganzen Tag seinen gammeligen
Schlafanzug getragen, sogar in die Schule wäre er damit gegangen, nur um
abends sich nicht wieder umziehen zu müssen. Klar, dass ihn auch immer
ein muffiger Geruch umgab und niemand mit ihm etwas zu tun haben wollte.

Schon morgens begann das Drama mit Nautnutz. Weil er nicht wach werden
wollte, zog ihm seine Mutter einfach die Decke weg und ließ kalte Luft
ins Zimmer. Dann zog sie ihn trotz seines Widerstandes an den Armen aus
dem Bett und stellte ihn auf seine kurzen Beine. Damit er sich nicht
wieder in die warmen Federn verkriechen konnte, nahm sie das Bettuch und
brachte es zum Lüften auf den Balkon. Und dann dauerte es ewig, bis
Nautnutz endlich am Tisch saß und langsam seine Cornflakes in sich
hinein mümmelte. Den Schulbus erreichte Nautnutz in der Regel nicht
mehr, weil er auf dem Weg trödelte oder einfach auf einer Bank sitzen
blieb. Dann musste ihn seine Mutter mit dem Auto dorthin bringen. Das
war für Nautnutz natürlich viel bequemer!

Wenn er in der Schule war, meist verspätet natürlich, dann setzte sich
das Drama fort. Keiner mochte neben ihm sitzen, weil er so abstoßend war
und meist auf seinen Armen ein Nickerchen machte. Der Lehrerin war's
Recht, denn ihn zur Mitarbeit zu ermuntern, war reine Zeitverschwendung!
Wenn eine Arbeit geschrieben wurde, dann gab Nautnutz nur einen leeren
Zettel ab oder sein Heft, in das er ein paar Strichmännchen gezeichnet
hatte, sofern er denn seinen Ranzen mithatte oder sein Federmäppchen. Wo
sollte das nur enden?, fragten sich alle: die Eltern von Nautnutz, seine
Klassenlehrerin und alle seine Mitschüler.

Eines Tages kam eine neue Schülerin in die Klasse. Sie hieß Laura und
war ein hübsches Mädchen mit dunklen Haaren und großen Augen. Schon bald
flogen ihr die Herzen aller Jungen in der Klasse entgegen. Jeder bemühte
sich um ihre Aufmerksamkeit und machte ihr kleine Geschenke. In den
Pausen drängten sie sich alle um sie und brachten sie zum Lachen. Nur
Nautnutz saß träge herum und würdigte sie keines Blickes. Sie war ihm
einfach egal!

Laura hatte bemerkt, dass sie auf Nautnutz keinen Eindruck machte. Das
ärgerte sie im Stillen, denn sie war solch eine Ablehnung von einem
Jungen nicht gewohnt. Was konnte sie nur anstellen, um auch von diesem
Sonderling beachtet und verehrt zu werden? Lange musste sie nachdenken,
bis ihr eine Idee kam.

In der nächsten Pause spielten alle Kinder der Klasse Abschlagen. Jeder
kannte das Spiel: Man musste hinter jemandem herlaufen, ihm irgendwohin
einen Klaps geben und rufen: Du hast ihn! Wer den letzten Klaps hatte,
musste nun seinerseits hinter einem anderen herlaufen und ihn
abschlagen. Als Laura den letzten Klaps hatte, rannte sie auf wie
zufällig an dem gelangweilten Nautnutz vorbei und schlug ihn ab. Doch
der blieb ungerührt sitzen, so als wäre nichts passiert. "Los, du
Faulpelz!", rief Laura, "du hast den letzten!" Doch Nautnutz blieb
sitzen wie angeklebt. Laura unternahm noch einen Versuch. Auch der
brachte nichts. Doch als sie ihn zum 3. Mal abschlagen wollte, kam ihr
Nautnutz zuvor: Er schlug sie ab! Allerdings blieb er dabei hocken und
rührte sich keinen Zentimeter.

Laura war sprachlos. Schnell gab sie Nautnutz den Schlag zurück und
wollte wegrennen. Doch Nautnutz war aufgesprungen und sofort hinter ihr.
Gerade wollte er sie wieder abschlagen, da stolperte Laura und fiel auf
den rauen Asphalt. Nautnutz war sofort neben ihr und half ihr auf. Ihr
rechtes Knie blutete und eine dicke Träne kullerte über ihre rechte
Backe. Umständlich kramte Nautnutz nach seinem verdreckten Taschentuch
und wischte ihr die Träne weg. Jetzt hatte Laura zwar keinen Träne mehr,
aber dafür einen dreckigen Strich. Trotzdem sah sie Nautnutz dankbar an.
Dann nahm sie ein Tempo aus ihrer Tasche und tupfte damit das Blut von
ihrem Knie. Als es nicht mehr blutete, ließ sie sich von Nautnutz zurück
in die Klasse begleiten. Wie ihn jetzt alle Jungen beneideten!

Am nächsten Tag war ein Wunder mit Nautnutz geschehen! Als er pünktlich
in die Klasse kam, waren alle Blicke auf ihn gerichtet. Seine Haare
waren gewaschen und einen sauberen Scheitel trug er auch. Irgendwie
wirkte er heller, denn auch sein Gesicht glänzte und die schwarzen
Finger waren säuberlich geputzt. Irgendwie war er wie ausgewechselt:
Seine Jacke war ordentlich zugeknöpft und seine Jeans gestopft. "Wau!",
raunten einige Jungen in der Klasse und alle Mädchen staunten ungläubig.

Die Krönung aber war, dass plötzlich Laura neben Nautnutz saß und so
tat, als wäre nichts dabei. Sie tuschelten miteinander und taten auch
sonst sehr geheimnisvoll. Sicherlich hatten sie sich noch viel zu
erzählen, doch die neugierigen Ohren der Mitschüler konnten kein Wort
verstehen. Als die Lehrerin die Klasse betrat, tat sie so, als hätte sie
keine Veränderungen bemerkt. Das war Nautnutz gerade Recht, denn so
brauchte er auch keine Erklärungen abzugeben.

Der Rest der Geschichte ist schnell erzählt. Laura brachte es
tatsächlich fertig, aus Nautnutz einen recht brauchbaren Schüler zu
machen. Seine Bücher waren immer vollzählig und die Hausaufgaben hatte
er auch immer gemacht, allerdings nicht ganz richtig. Die Mitschüler
erinnerten sich auch wieder an seinen richtigen Namen, obwohl sie ihn
nicht ‚Waldemar', nannten, sondern ‚Waldi', so wie Laura ...

JoJo der Schneetropfen

Um es gleich vorweg zu sagen: Ich bin ein Regentropfen und heiße an sich
'Hans-Joachim'. Aber das ist meinen unzähligen Freundinnen und Freunden
auf Wolke 7 zu lang. Also haben sie mir den Spitznamen 'JoJo' gegeben.

Eng aneinander gereiht bildeten wir riesige dunkle Regenwolken, die vor
ein paar Tagen über dem Atlantik von Petrus, dem Wettergott, angeschubst
worden waren. "Macht euch auf die Reise nach Österreich. Die Kinder dort
warten schon auf euch!", hatte er zum Abschied uns noch zugerufen. Wir
hatten zwar nicht ganz verstanden, was er meinte, aber wir waren froh,
endlich mit dem Wind los segeln zu können.

Zuerst war unsere Reise ziemlich langweilig. Es ging nur über das Meer
dahin, Blau soweit das Auge reichte. Doch dann sahen wir endlich am
Horizont eine andere Farbe auftauchen: Grün. Wir wussten, dass es das
Festland war, auf das wir in Windeseile zusteuerten. "Haltet euch fest!"
ertönte eine Stimme aus den Lautsprechern an Bord unserer Wolke. Gleich
wird die Fahrt ein bisschen unruhig werden, wenn wir über Berge und
Täler fliegen. Am besten schnallt ihr euch an!"

Manche meiner Freundinnen und Freunde waren so vom Anblick der Erde so
begeistert, dass sie das Anschnallen vergaßen. Sie drängelten sich an
den Fenstern und Türen, um möglichst viel zu sehen. Und dann passierte
es! Um nicht mit einem plötzlich auftauchenden Berg zusammen zu stoßen,
fing unsere Wolke schnell an zu steigen. Mit einem Mal gingen die
Bodentüren auf und der Fahrtwind riss alle Tropfen, die nicht
angeschnallt waren, in die Tiefe. Traurig sahen wir ihnen nach, wie sie
unter uns der Erde zuflogen. "Na ja, Regentropfen haben auch ihren
Wert", sagte ein schlauer Regentropfen neben mir. "Mal sehen, was aus
uns wird", murmelte ich und vergrub mich in meinen Gedanken.

Als der Flug wieder ruhiger wurde, nahm ich mir ein Herz, schnallte mich
los und schlich vorsichtig zu einem Wolkenfenster. Was ich da sah, nahm
mir den Atem. So etwas Schönes hatte ich schon lange nicht mehr gesehen.
Lauter Berge und Täler zu einer wunderschönen Landschaft geformt und.
von der Sonne beschienen. Da möchte ich landen", dachte ich mir und
blickte dabei zufällig auf den Bug unserer Wolke. Da stand auf einem
großen Schild das Wort geschrieben: Alpbachtal. War das am Ende unser
Zielort? "Hoffentlich fängt Petrus bald mit dem Bremsen an!", flehte ich
zum Himmel.

Petrus musste mein Flehen wohl vernommen habe, denn auf einmal
verlangsamte unsere Wolke ihr Tempo und fing an zu sinken. "Fertig zum
Aussteigen!", dröhnte es wieder aus den Lautsprechern. "Draußen ist es
bitter kalt", fuhr die Lautsprecherstimme fort, "also nicht erschrecken!
Wir garantieren ein weiche Landung." Wir schnallten uns ab und warteten
gespannt darauf, dass sich die Ausstiegsluken öffneten. Da machte es
auch schon Rums! und wir fielen ins Freie.

Die Lautsprecherstimme hatte Recht: Draußen war es eisig kalt und schon
nach kurzer Zeit veränderte sich auf wundersame Weise unser Äußeres. Als
wir noch in der Wolke waren, waren wir kugelrund wie Wassertropfen.
Jetzt aber wurden wir durch die Kälte immer flacher und bekamen ein
flockiges Aussehen. "Jojo, du hast ja ein richtiges Gesicht!", grinste
eine weibliche Schneeflocke zu mir herüber und segelte näher an mich
heran. "Komm, lass' uns tanzen", rief ich ihr zu und umarmte sie. So
tanzten wir der Erde entgegen, die langsam auf uns zukam.

Katharina und Maxi warteten schon sehnsüchtig im Garten ihrer
Ferienwohnung auf uns herab rieselnden Schneeflocken. Selig breiteten
sie die Arme aus, um uns zu empfangen. Doch fangen ließen wir uns nicht!
Ganz sanft ließen wir uns in der Nähe der Kinder nieder. Zusammen mit
anderen Flocken bildeten wir jetzt eine dicke Schneedecke, die nur
darauf wartete, zu einem Schneemann geformt zu werden. Und richtig! Da
rollten die beiden schon dicken Schneewalzen vor sich her, die auch uns
erfassten. Jetzt ergriffen uns Kinderhände und hievten unsere Walze nach
oben. "Das ist der Kopf", hörten wir Katharina sagen. "Dem fehlt ja noch
das Gesicht", stellte Maxi fest und machte sich schon auf die Suche nach
geeigneten Stücken.

Während Maxi noch suchte, zog Katharina ihren Schal ab und schlang ihn
dem unfertigen Schneemann um den Hals. "Damit du nicht frierst", meinte
sie und streichelte seinen runden Bauch. "Hier hast du auch meine
Mütze", sagte sie und bedeckte seinen Kahlkopf mit ihrer roten Haube.

Bald war auch Maxi wieder zur Stelle. Er hatte aus dem Heizungskeller
ein paar Kohlen besorgt und auch in irgendeiner Ecke ein lange Mohrrübe
gefunden. Damit bekam der Schneemann auch sein Gesicht. Ich hatte Glück,
denn als Maxi dem Schneemann die Rübe als Nase aufsetzte, hätte er mich
fast erwischt. So blieb ich unversehrt und bildete zusammen mit anderen
Schneeflocken die linke Backe des Schneemanns.

Martin, Maxis und Katharinas Vater, kam hinzu und bewunderte das
Kunstwerk. Sogleich besorgte er den Stab für den rechten Arm des
Schneemanns und die Kartoffeln für die Mantelknöpfe. "Blöd nur", brummte
er, "dass wir morgen schon wieder nach Hause zurück fahren. Mitnehmen
geht nicht!". Maxi und Katharina schauten traurig in die Runde. Wie
konnte ich sie nur trösten? Da kam auch noch Katrin in die Runde und
hatte auch gleich eine Idee. "Wisst ihr was?", sagte sie viel
versprechend, "ich räume die Kühlbox leer. Dann können wir euren süßen
Schneemann dort mit heim transportieren!" Maxi und Katharina jubelten.
Sie hatten wirklich die besten Eltern der Welt!

Dann sah ich zum ersten Mal in meinem Leben eine Kühlbox. Da hinein
sollten wir? Unmöglich! Das dachten sich auch die Menschen um uns herum.
Katrin und Martin tuschelten eine Weile und dann packten sie zu. Mit
vereinten Kräften schleppten sie den Schneemann in die Küche und drehten
die Heizung ab. "Ihr werdet sehen: Morgen früh, wenn wir losfahren, ist
euer Schneemann nur noch so groß, dass er in die Kühlbox passt!", meinte
Martin vielsagend und Katrin nickte zustimmend.

Heimlich standen Maxi und Katharina nachts auf, um nach dem
schrumpfenden Schneemann zu schauen. Tatsächlich: Er war nur noch halb
so groß! Doch es fehlte noch ein kleines Stück bis zur Kühlbox-Größe.
Die war dann erreicht, als alles für die Abreise fertig war. Ich hatte
Glück, dass ich im Kopf des Schneemanns saß und nachts nicht weggetaut
war wie der Schnee auf dem warmen Fußboden! Es war zwar verdammt eng da
drin in der Kühlbox und auch stockfinster, aber kalt genug, um als
Mini-Schneemann zu überleben ...

Wie waren wir froh, dass endlich nach zig Stunden wieder der Deckel
aufging. Vorsichtig nahm Martin den Schneemann aus der Box und stellte
ihn auf der Terrasse des Hauses ab. Wie freuten wir uns, dass es nur
wenig später zu schneien anfing und der Schnee uns mit einem weißen
Mantel zudeckte. Katharina und Maxi tanzten um uns herum. Dann fingen
sie an, mit Hilfe ihrer Eltern kleine Schneebälle zu formen und damit
den Schneemann wieder groß werden zu lassen, so groß wie am Tag zuvor.
Wir freuten uns wie Schneekönige, denn nun hatten wir eine gute Chance
den Winter heil zu überstehen!

Abends, als alle wieder im Haus waren, raschelte es in den Bäumen hinter
uns. Waren das nicht Eichhörnchen, die da jagten? Richtig! Und schon
saßen sie dem Schneemann auf den Schultern und fingen an zu pfeifen,
dass uns Schneeflocken die Ohren schrillten.

Als der Mond aufgegangen war und die Kälte noch mehr zunahm, wurde es
still um uns herum. Im fahlen Mondlicht konnte ich ein Schild an der
Haustüre erkennen. Darauf stand: Ruhweg 11. Wie wunderbar! Jetzt hatte
ich eine richtige Adresse: JoJo Schneetropfen, Ruhweg 11. Wenn ich doch
nur noch wüsste, wo genau das Haus steht! Aber das kriege ich auch noch
raus, wetten?!

Für heute erst mal Gute Nacht!